John Cage

Jener flüchtige Augenblick, in dem man das Leben in sich spürt...

Die erste eingehende Beschäftigung für mich mit dem Leben und Werk John Cages war im März 1991. Eine Gruppe von Studenten der Freiburger Musikhochschule war eingeladen, beim Ars Musica Festival in Brüssel mit John Cage zu arbeiten und einige seiner Ensemblestücke aufzuführen. Für uns war es zunächst eine große Herausforderung, aus den einzelnen Tonaggregaten, die in den Einzelstimmen notiert waren, Musik zu formen und sie mit Leben zu erfüllen. Die physische Präsenz von John Cage, seine mentale Kraft, die Ernsthaftigkeit und Authentizität seiner Person, aber auch seine Wachheit, sein Humor und sein wunderbarer Schalk in der Probenarbeit waren ausschlaggebend für eine engagierte und konzentrierte Aufführung und den Wunsch, in den Folgejahren immer wieder Musik von Cage aus allen seinen Lebensphasen in Konzerten zu programmieren, vermitteln und realisieren.

Die jüngste Auseinandersetzung mit John Cage initiierte Walter Zimmermann im Frühjahr 2012. Er hatte bereits im Oktober 2010 in der New York Public Library den Zyklus der Sixteen Dances als Klavierfassung entdeckt, der bis dato nur als Ensemblestück öffentlich zugänglich war. Er begann mit der Transkription des Manuskripts in eine druckfähige Fassung und fragte mich, ob ich Interesse daran hätte, diese einzustudieren und uraufzuführen. Ich war begeistert, dass es einen unbekannten Schatz von Cage zu heben galt, und eine gemeinsame, manchmal archäologisch anmutende Spurensuche begann. Die auch gelegentlich von der Skepsis begleitet wurde, ob es sich wirklich um einen autonomen Klavierzyklus handelt oder lediglich um eine Art von Particell des Ensemblestückes. Aber mit zunehmender Beschäftigung wurde immer deutlicher, dass wir hier dabei waren, nicht nur das Cage-Repertoire, sondern das Klavierrepertoire überhaupt um sechzehn jeweils ganz eigen gefärbte Charakterstücke zu bereichern. Immer wieder gab es Korrekturdurchläufe im editorischen Prozess, immer wieder fanden sich Fehler, die korrigiert werden mussten, bei philologisch indifferenten Stellen wurde die Ensemblefassung zu Rate gezogen, manchmal auch mussten Entscheidungen aus pianistischer Perspektive getroffen werden, um das Material sinnfällig spielbar zu machen. Dabei war immer wieder die Frage richtunggebend, welche Notierung den Geist der Musik am verständlichsten und treffendsten übertragen kann. Und so entstanden eine kritische Fassung, in der alle editorischen Möglichkeiten eingearbeitet wurden, und eine diplomatische Fassung, eine Art von Spielfassung.

Die Uraufführung fand dann im Rahmen der Finissage der großen Cage-Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages am 5. September 2012 in der Akademie der Künste in Berlin statt. Im zweiten Teil des Abends, moderiert von der Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe, stellten die Herausgeber Walter Zimmermann und Marie Luise Knott das bei Suhrkamp gerade neu erschienene Buch Empty Mind vor. Und der mit Cage langjährig befreundete Anglist und Übersetzer Klaus Reichert verlebendigte die neu zugänglichen Schlüsseltexte Cages in einer einzigartigen Lesung.

Im November folgte ein ganzer Cage-Tag in der HebelHalle Heidelberg. Zentrales Werk waren auch hier die Sixteen Dances, zu hören in der Klavierfassung und in der Ensemblefassung mit einer eigens neu entworfenen Choreographie von Jai Gonzales.

Auf zwei besondere Aspekte der Aneignung und Ausführung von Cages Musik möchte ich an dieser Stelle hinweisen, die für den Interpreten eine besondere Herausforderung und auch Chance darstellen im Vergleich zum Erarbeiten anderer Musik, sowohl des klassisch-romantischen Repertoires als auch von Partituren des 20. und 21. Jahrhunderts.

So traditionell der Notentext beim ersten Durchlesen erscheint, es gibt in einigen der Sixteen Dances neben dem komponierten musikalischen Material, den fixierten Tonaggregaten, die Cage den Sixteen Dances, nach einem systematisierten Verfahren des Zufallsprinzips zugeordnet hat, Passagen mit exakt notierten, teilweise sehr langen Pausen. Die Pausenzeichen bei Cage fungieren aber nicht wie in anderer Musik als Brückenschläge, Atembögen, Impulsgebern zu neuen musikalischen Ereignissen, sondern in ihnen ereignet sich genau das nicht musikalisch Geformte. Das Pausenzeichen bei Cage ist das Notat für die Stille, die ebenso konstitutiv für seine Musik wie das bewusst geformte musikalische Material ist. Cage fasste die Stille als die Gesamtheit unbeabsichtigter Klänge1 auf. Was MACHT man nun als Musiker damit, auf der Bühne, vor dem Mikrofon im Studio? So schwer es fällt - man denkt ja beim Aufführen auch immer ans Vorführen, Zeigen, Darstellen -, die Pausen fordern den Musiker auf, die aktive Spielhaltung in eine rezeptive Haltung des Geschehenlassens zu transformieren. Nichts MACHEN zu wollen, nur einen Raum durch eigene Präsenz und Konzentration zu schaffen, um das hörbar werden zu lassen, was ohne eigenes Zutun ohnehin sich ereignet und geschieht. Das bedeutet nichts anderes, als stets zwischen zwei Modi zu pendeln, einem aktiven Gestaltungswillen und einer ganz zurückgenommenen Haltung der offenen Antennen hin zur bereiten und wachen Absichtslosigkeit.

Ein weiterer Aspekt, der sich auch aus dem permanenten Wechsel zwischen zweierlei Grundhaltungen ergibt, ist der einer eigenen Spielchoreographie. Cage setzt das Klavier gleichermaßen als Melodieinstrument und als Perkussionsinstrument ein. Besonders im letzten Satz imitiert das Klavier Schlaginstrumente wie Tamtam und balinesische Gongs. Den Klangfarben dieser Instrumente werden im Klavier ganz spezifische Klänge zugeordnet, die durch spezielle Anschlags- und Pedaltechniken realisiert werden können. Und um die Musik in stetem Fluss auszubalancieren, ist es entscheidend, Bewegungsabläufe am Klavier zu finden, die die Musik nicht nur abbilden, sondern ein Äquivalent zur Musik bilden, eben eine adäquate Choreographie im Spielgefühl zu verankern, um in der Bewegung den Puls des Lebendigen fühlen zu können: Tanzen am Klavier. Das ist das schönste Geschenk aller Kunst, und Merce Cunningham formulierte es für den Tanz mit diesen einfachen Worten: Man muss den Tanz lieben, um dabei zu bleiben. Er schenkt einem nichts – außer jenem flüchtigen Augenblick, in dem man das Leben in sich spürt.2 (2013)

1 John Cage, Für die Vögel, Gespräche mit Daniel Charles, Merve Verlag Berlin 1984, S. 38

2 Merce Cunningham, Der Tanz und der Tänzer, Verlag Dieter Fricke GmbH, Frankfurt 1986, Klappentext